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Internationales
Symposium zur Bedeutung und Zukunft der Orgel
8.-11.
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September
2011 in Zürich |
Überlegungen
zur Zukunft der Orgel im europäischen Kulturleben
Bernard
Foccroulle
In seinem 1870
erschienenen Buch «20,000 Meilen unter dem Meer» schildert Jules Verne einen
merkwürdigen, aber faszinierenden Menschen, Kapitän Nemo. Dieser lebt
zurückgezogen und fernab der Gesellschaft, durchquert die Ozeane und die
Meeresgründe, studiert Pflanzen und Wasser- Lebewesen und spielt auf einer
Orgel, die in seinem Unterseeboot « Nautilus » eingebaut ist.
« Manchmal »‚ so der Erzähler, « hörte ich die melancholischen Töne seiner
Orgel, die er sehr ausdrucksvoll spielte, aber nur bei Nacht, mitten in stiller
Dunkelheit, wenn die >Nautilus< in den einsamen Gegenden des Ozeans
schlummerte.»
Die Orgel,
Instrument der Einsamkeit... Der visionäre Schriftsteller scheint auch hier
etwas vorwegzunehmen: denn nimmt die Orgel, das kraftvolle Instrument, das
Kathedralen füllen und mit seinen Klangfluten Tausende von Zuhörern
überschwemmen kann, in unserem Musikleben nicht einen ganz und gar marginalen
Platz ein?
Es ist wohl
unbestritten, dass schon seine sehr erhöhte Positionierung in den meisten
unserer Kirchen dem Instrument einen unnahbaren, magischen, ja göttlichen Zug
verleiht. Dies ist ja übrigens auch die Rolle, welche ihm die Liturgie zuwies:
die Orgel, oft noch künstlerisch überhöht durch Statuen von Engeln und
Heiligen, repräsentiert den Himmel, während die Sänger das Kirchenvolk
darstellen. Daneben verstärkt die Tatsache, dass die Orgel ihre Töne länger
aushalten kann als jedes andere Instrument, ihren heiligen Charakter, das
Gefühl von Ewigkeit. Polyphone Satzkunst bezeugt schliesslich eine
Weltanschauung, welche die Musik als Spiegelung der Perfektion der Schöpfung
betrachtet.
Und doch nähert sich
dieses « himmlische» Instrument im Laufe seiner langen Geschichte mehr und mehr
dem Menschen. Seit dem 14. Jahrhundert vermengt die Orgelmusik Profanes und
Sakrales, gründet auf Tanzformen, wie wir es beispielsweise in den liturgischen
Stücken des Codex Faenza sehen können.
Am Ende der
Renaissance beeinflussen die Strömungen des Humanismus die Orgel und ihre Musik
entscheidend. Die Orgel drückt nun jene « affetti »‚ jene Emotionen und menschliche Leidenschaften aus, die Frescobaldi im
Vorwort seines Ersten Toccatenbuches beschreibt. Gleichzeitig lenken Bull,
Cornet, Correa de Arauxo oder Scheidemann die Orgelmusik in neue Bahnen, indem
sie den Weg öffnen für eine neue Virtuosität und eine individuelle Expressivität.
Auch nachfolgende Generationen
— Bach eingeschlossen — tragen
so auf ihre spezifische Art zu einer «Vermenschlichung» der Orgelmusik bei.
Indem sie der Lesung
der Bibel und dem Wort einen bevorzugten Platz zuweist, gibt die lutherische
Reformation der Orgel eine neue Richtung und nähert sie der Predigt an. Die
lutherische Orgel «spricht» so viel wie sie « singt »‚ « kommentiert» die heilige Schrift im selben Mass, wie sie die Herzen
der Gläubigen erfreut. Kein Wunder also, dass sich die deutschen Musiker in
diesem Moment so stark durch Rhetorik-Lehrbücher inspirieren lassen
Als Reaktion darauf
versucht die Gegenreformation eher, die Gläubigen durch eine prunkvolle
liturgische Musik zu bezaubern, die nicht davor zurückschreckt, sich der neu
enstandenen Formen profaner Musik zu bedienen : so finden in Frankreich die «
Offertoires sur les Grands Jeux» ihre Herkunft in den französischen Ouvertüren,
die « Récits» in Opernarien, die « Noëls» bei den Fifres, Tambourins und
Musetten der Volksmusik.
Die Orgel, Spiegel der kulturellen Vielfalt Europas
In einem ganz anderen Gebiet drücken Orgelbauer und
Organisten auf eine ganz natürliche, aber völlig unbewusste Weise den Genius
ihrer jeweiligen Muttersprachen aust
Das Ripieno einer italienischen Orgel evoziert die
Geschmeidigkeit und Geschwindigkeit der italienischen Sprache, reich an Vokalen
und Diphthongen. Die Werke von Frescobaldi und Rossi legen Zeugnis ab von einer
Kunst, die Überraschungen, schnelle Kontraste und Improvisation sucht...
Dagegen spiegelt die germanische Orgel auf vollkommene Art
und Weise Akzentuierung und
Artikulation der deutschen Sprache. Beim Anhören eines «
sprechenden » Prinzipals einer
norddeutschen Orgel finden wir im Spiel seiner Ansprache die
Konsonanten, die in der Sprache
Scherers, Schnitgers oder Silbermanns so wichtig sind.
Und wer spürt nicht in eine Tierce en taille die Sanftheit
des Jeu de Tierce, die Süsse und Abrundung des Klangs, die Nonchalance der
Rede, die gleichermassen ein Echo zu sein scheint der für die französische
Sprache so typischen, schwachen Akzentuierung?
All jene, die Spanien bereist haben, werden schliesslich
wahrgenommen haben, wie ähnlich die direkten und farbigen Klänge des Spanischen
und der Klang des Comets sind oder wie gross die Verwandtschaft zwischen den
näselnden Kinderstimmen und vergleichbaren Klängen der viejas, orlos, chirimias
und anderer Zungenregister im Fundus der iberischen Orgel.
In ganz Europa bildet die Orgel auch soziale Schichtungen
ab: wir bewundern die aristokratische Noblesse der Compenius-Orgel im
Königsschloss von Frederiksborg in Dänemark, delikat und raffiniert, oder jener
Orgel in der lnnsbrucker Silbemnkapelle. Anderseits: wer würde sich nicht
bewegen lassen von der Kraft und dem Klangreichtum der prächtigen Orgel in
Gross-Städten, Stolz des Grossbürgertums in Hamburg, Lübeck, Paris, Amsterdam,
Riga oder Salamanca? Und empfinden wir nicht auch grosse Freude beim Kontakt
mit Instrumenten rauheren, ja „bäuerlicheren“ Charakters auf dem Land, in
Friesland, in Sachsen, in Wallonien, Alt-Kastilien oder Istrien?
Auch die Natur hat immerzu Inspiration geliefert für
Organisten und Orgelbauer, von der « Nachtigall » der französischen Orgel bis
zum Zimbelstern in Norddeutschland, ohne die Regenmaschine der Hofkirchen-Orgel
in Luzern oder Lefébure-Wélys Orgelgewitter zu vergessen...
Kosmische Dimensionen werden in Athanasius Kirchers «
Musurgia Universalis » (1662) wissenschaftlich genau gleich abgehandelt, wie
sie in den grossen Choral-Zyklen Weckmanns oder, in noch poetischerer Form, im
Orgelwerk Olivier Messiaens ihren Ausdruck finden.
Die Orgel kann daher wohl ohne Übertreibung als ein
grossartiger Spiegel der kulturellen Vielfalt Europas betrachtet werden. Ja,
die Orgel hat unsere europäische Kultur durch ihr Repertoire bereichert, von
dem ein Teil zweifellos seinen Platz im Pantheon musikalischer Meisterwerke
verdient, aber auch durch ihre (vielleicht unbewusste) Rolle in der «
kulturellen Bildung » des Volkes, das kostenlos und selbstverständlich in der
Liturgie jene Meisterwerke auch zu hören bekam.
Glücklicherweise ist diese Tradition durch die Jahrhunderte
nie unterbrochen worden und lebt weiter. Wir haben das Privileg, Musik aus
vergangenen Jahrhunderten auf gut erhaltenen Instrumenten derselben Epochen
spielen zu können, und dies in einer Mehrheit aller europäischen Länder. Wie
viele andere Musikkulturen sind dagegen doch verloren gegangen oder werden erst
heute, nach Jahrhunderten des Schweigens, wieder zum Leben erweckt? Uns ist diese
Tradition anvertraut worden: es liegt also in unserer Verantwortung, sie
weiterhin zu bewahren und weiterzutragen. Dies nicht in erster Linie für uns
selbst, sondern für die Völker Europas, für kommende Generationen und auch für
die Welt, die damit begonnen hat, sich jene spezifische Kultur zu eigen zu
machen.
Die Orgel und ihre Musik lebendig erhalten
Sie werden mir verzeihen, der Vergangenheit der Orgelmusik
soviel Zeit geschenkt zu haben. Aber wie soll man sich der Zukunft zuwenden,
ohne der Gegenwart und vergangener Zeiten mit grösster Sorgfalt zu begegnen?
Können wir überhaupt abschätzen, welchen Platz die Orgel, oder die Kultur
überhaupt, in jener Welt einnehmen wird, die gerade jetzt entsteht und gebaut
oder auch abgebaut...? wird, mit schwindelerregenden Geschwindigkeit und vor
unseren Augen, die dem Treiben oft ohnmächtig und mit Abscheu zusehen? Wie wird
die menschliche Gesellschaft in einigen Jahrzehnten aussehen? In welchem
Zustand werden künftige Generationen unseren Planeten antreffen? Hätten wir
nicht Bedarf nach Utopien eines neuen Jules Verne?
Um im Rahmen dieses Vortrags zu bleiben, möchte ich
festhalten, dass die wohl wichtigste Herausforderung, die uns Organisten und
Orgel-Spezialisten im 21. Jahrhundert erwartet, jene ist, die Orgel und ihre
Musik lebendig zu erhalten. Lebendig zu erhalten im wahren Sinn des Wortes:
durch Neuschöpfungen, durch eine fruchtbare Verbindung zwischen neu
Entstehendem und jenem grossartigen Erbe, das wir übernehmen durftJn, durch
eine möglichst fruchtbare Gegenüberstellung zwischen der Orgelmusik und
jedweder Form von Musik, jeglichen künstlerischen Disziplinen.
Die 50 letzten Jahre haben gezeigt, dass einige unserer
besten Komponisten sich wieder der Orgel zugewendet haben: Ligeti, Kagel, Gubaidulina,
Xenakis, Rihm, Harvey, Dusapin und viele andere haben ausserordentliche Werke
geschrieben und wahrhaft « unerhörte » klangliche Universen entstehen lassen.
Einige haben ohne Zögern die Vergangenheit auf kreativste Art unter die Lupe
genommen und sich davon inspirieren lassen, ich denke zum Beispiel an « Fa-Si »
von Berio oder « Fanfare II » von Boesmans, zwei Schlüsselwerke der
Siebzigerjahre. Es ist wichtig, auch weiterhin die besten lebenden Komponisten
für die Orgel zu sensibilisieren, über den Kreis der « komponierenden
Organisten » hinaus!
Die Orgel hat auch von der Wiederentdeckung der Barockmusik
profitiert: Organisten haben sei es solistisch oder als Continuo-Spieler, in
Vokalmusik, Kammermusik wie auch in den grossen Kirchenmusikwerken dadurch
wieder einen entscheidenden Platz im Musikleben eingenommen.
Wir leben fortan in einer globalisierten Welt: es ist an
uns, zu wählen zwischen dem heftigen Zusammenprallen von Zivilisationen oder
einem Dialog der Kulturen. Hat die Orgel ihren Platz im interkulturellen
Dialog? Gewisse Komponisten wie z.B. Isang Uun oder Toshio Hosokawa entstammen
selbst anderen Kontinenten; im umgekehrten Fall findet ein Komponist (wie es
Jean- Louis Florentz mit der traditionellen Musik Schwarzafrikas erlebte) andernorts
bemerkenswerte neue Quellen der Inspiration.
Wir beobachten mehr und mehr, wie die Orgel Anteil nimmt an
bislang unbekannten Begegnungen mit Jazz, mit traditioneller Musik unserer
Regionen, mit Musik aus Arabien oder dem fernen Osten. Ich habe selbst
Gelegenheit gehabt, mit einem palästinensischen Musiker mehrere Konzerte zu
geben, mit Moneim Adwan, einem hervorragenden Sänger und ‘ud-Spieler. Diese
Konzerte haben nicht nur bei den Zuhörern sehr tiefe Emotionen ausgelöst,
sondern auch uns Musiker gezwungen, Risiken einzugehen, aufeinander zuzugehen
und uns zu bewegen, von einer schriftlichen zu einer mündlichen Musiktradition
oder umgekehrt! Uns klassische Musiker zwingt die Begegnung mit einer Musik,
deren Wurzeln noch so lebendig spürbar sind, dazu, uns abseits ausgetretener
Pfade zu begeben, wieder ins Herz einer mündlich überlieferten Tradition, die
ja ebenfalls eine der Quellen unserer westlichen Musik war.
In einem noch allgemeineren Sinn können wir auch beobachten,
wie die Orgel neue Beziehungsnetze knüpft zu anderen künstlerischen
Disziplinen. Ich denke da an Begegnungen zwischen Orgel und Literatur wie jene
« Hommage a Jehan Alain » im vergangenen März in Saint Germain-en-Laye mit der
Filmschauspielerin Brigitte Fossey und dem Organisten Michel Bouvard. Auch bin
ich überzeugt
davon, dass uns manch grosser Videokünstler überraschen
könnte, würde er sich mit Orgelmusik auseinandersetzen. Verschiedene
Performances haben in letzter Zeit die Orgel mit dem Tanz assoziiert, zum
Beispiel mittels der Trois Danses von Jehan Alain. Ich habe selbst zweimal das
Vergnügen gehabt, damit eine speziell erfreuliche Erfahrung zu machen,
einerseits mit dem Choreographen und Bildhauer Jan Fabre und der Tänzerin
Annabelle Chambron, anderseits mit Salva Sanchiz und seiner Truppe. Solche «
Orgel und Tanz »-Projekte laden die Zuschauer zu einer andern Art des Hörens, zum
Abschiednehmen von gewissen Vorurteilen ein und fordern dazu auf, solch
neuartigen künstlerischen Äusserungen auch selbst kreativ zu begegnen.
Es ist zweifellos eine unserer wichtigsten Aufgaben, auch
den Klerus davon zu überzeugen, die Sakralräume für solche interdisziplinären
Realisierungen zu öffnen, die vielleicht nicht direkt religiös inspiriert sind.
Mit einem Tanz-Projekt Zugang zu katholischen Kirchen zu finden, bleibt ein
schweres Unterfangen. Aber haben solche künstlerischen Veranstaltungen nicht
fast zwingend auch eine spirituelle Dimension? Wäre es nicht an der Zeit, dass
die Kirche mehr Mut zeigt, sich stärker öffnet, mehr Zeugnis ablegt von
Weitsicht im Umgang mit Zeitgenössischem?
Zudem erlauben neue Technologien, zukünftig auch interdisziplinäre
Veranstaltungen simultan an verschiedenen Orten durchzuführen: ein Orgelkonzert
zum Beispiel, das in einer Kirche stattfindet die dazu passende Choreographie
aber in einem Theater derselben Stadt oder sogar an einem anderen Ort. ist das
nicht eine Aufforderungen, unseren kostbarsten Instrumenten, den ältesten wie
auch den modernsten, ein neues Leben zu verleihen?
Die Teilnahme des Publikums
Die Orgel lebendig erhalten zu wollen bedingt aber auch, auf
das Publikum zuzugehen. Hier stossen wir auf ein Paradox: das Vorhandensein von
Orgein in Zehntausenden von Kirchen sichert dem Instrument eine grosse
Verbreitung und eine ausserordentliche Dezentralisierung zu. Wir müssen indes
aber auch zugeben, dass Orgelkonzert-Reihen oft nur ein sehr eingeschränktes,
ja allzu eingeschränktes Publikum ansprechen, in Kirchen wie auch in
Konzertsälen.
Dürfen wir uns einer grossen Präsenz der Orgel in unseren
Radio- und Fernseh-Kanälen rühmen?
Wann hat zum Beispiel Arte, der europäische Kultursender par
excellence, der Orgel Europas ein
Programm gewidmet, das seinen sonstigen programmatischen
Ambitionen entsprochen hätte?
Und doch ist meine Vision der Zukunft der Orgel und ihres
Publikums kein Katastrophenszenario, denn wir verfügen durchaus über
beträchtliche Vorteile! Es gilt, die grossen Konzertveranstalter zu überzeugen,
Orgelkonzert-Reihen zu schaffen, die über die Grenzen der aficionados
hinausreichen. In Brüssel organisiert der Palais de Beaux-Arts seit einigen
Jahren eine Reihe von Orgelkonzerten in den Hauptkirchen der Stadt: die
künstlerische Qualität ist sehr hoch, das Publikum würdigt dies nach Kräften,
und die Einnahmen übersteigen regelmässig die Kosten!
In Toulouse legte Xavier Darasse vor über dreissig Jahren
den Grundstein zu einem brillanten organistischen Leben, das sich auf einen
bemerkenswerten Fundus an Instrumenten, ein Festival, Meisterkurse und einen
internationalen Wettbewerb stützen kann. 1996 haben seine Nachfolger, Michel
Bouvard und Jan Willem Jansen, eine neue Etappe eingeleitet durch die Schaffung
eines ambitiösen Festivals, das sich wohl auf die Orgel bezieht, aber
gleichzeitig jeglicher Art musikalischer und künstlerischer Äusserung
offensteht. Viele unter uns werden wohl aus eigenem Erleben bestätigen, dass
Toulouse-les-orgues sein Versprechen eingelöst hat, die Orgel für ein grosses
Publikum lebendig zu erhalten
Ein ambitiöses pädagogisches Projekt rund um die Orgel
Seit etwa zwanzig Jahren haben die europäischen Opernhäuser
und Orchester Kulturvermittlungs- Stellen geschaffen und ihre Aktivitäten für
junge Menschen, insbesondere für Schulklassen, vervielfacht. Die Ergebnisse
sind teilweise spektakulär, nicht nur quantitativ, sondern auch, was die
Qualität der Beteiligung und der Reaktionen der Kinder und Jugendlichen
betrifft.
Ich bin völlig überzeugt davon, dass auch uns hier eine
immense Baustelle erwartet: stellen wir uns nur kurz vor, welche Kraft welchen
Reichtum und welche Vielfalt wir alle für die Welt der Schulen darstellen
könnten! Jede unserer Kirchen kann jährlich Tausende von Kindern willkommen
heissen. Wenn wir über pädagogische Konzepte und Programme verfügen, die den
entsprechenden Altersgruppen angepasst sind, können wir unsere jungen Zuhörer
gleichzeitig mit der Schönheit des Instruments Orgel und seiner Musik, aber
auch mit all jenem vertraut machen, das durch dieses künstlerische und
spirituelle Erbe repräsentiert wird
Wir können ihnen die Vogelgesänge, das Rauschen der Quellen
und das Grollen des apokalyptischen
Untiers in der Messe de Fa Pentecöte von Messiaen zeigen.
Wir können sie einen Marienhymnus singen lassen mit den
Glosas von Correa.
Wir können sie einen Luther-Choral singen lassen und die
dazu komponierten Vorspiele Bachs und
seiner Vorgänger zeigen.
Wir können sie mitnehmen in das fantastische Universum Franz
Liszts oder in die musikalische Poesie
Jehan Alains...
Was wir davon buch wählen: wenn wir es kompetent und mit
Überzeugung vermitteln, werden unsere jungen Zuhörer ein ideales, spontanes und
reaktionsfähiges Publikum sein. Und wir werden in ihnen vielleicht den Wunsch
wscken können, später wieder einmal in ein Konzert zu kommen, um nochmals von
dieser unerhörten klanglichen Magie zu kosten....
Nebst der Welt der Schulen und der Jugendlichen sind aber
auch all die Organisationen und Vereine nicht zu vergessen, die in Quartieren
arbeiten, mit Gruppen von Immigranten, in Spitälern, Gefängnissen... Diese
Kreise sind oft sehr offen für Vorschläge aus der « Kultur-Szene ». Trotz
mancher Vorurteile dürfen wir nicht vergessen, dass wir hier ein Publikum
erreichen können, das besonders empfänglich ist für eine künstlerische
Dimension: je zerbrechlicher der Mensch, umso mehr nimmt er ein Kunstwerk mit
scharfen Sinnen wahr, mit einer Intensität, die oft viel grösser ist als die
Reaktion eines damit vertrauten Publikums...
Welcher Orgelbau im 21. Jahrhundert?
Persönlich glaube ich nicht an eine « Orgel des 21.
Jahrhunderts ». Dies vor allem, weil ich keine
Notwendigkeit dafür sehe, eine rundum neue Orgel zu
erfinden. Ich bin aber überzeugt dass unsere
Orgelbauer und ihre Nachfolger Wunder vollbringen werden in
unterschiedlichster ästhetischer
Ausrichtung.
Ich beobachte hier drei Arbeitsfelder, drei Herausforderungen:
die erste besteht darin, stets von den
schönsten erhaltenen historischen Instrumenten zu lernen.
Die zweite betrifft die Orgeln in
Konzertsälen: |
zu oft schenken uns Konzertsaalorgeln, in Ermangelung der
grosszügigen Akustik einer |
Kirche, nicht jenes kiangliche Vergnügen, jene Raffinesse,
die wir erwarten. Dies steht einer
Erweiterung unseres Zuhörerkreises im Weg.
Der dritte Bereich berührt die kreative und weitblickende
Verwendung neuer Technologien. Ich glaube, dass Digital-Technologien,
insbesondere das Sampling, erlauben sollten, den Orgelbau weiterzuentwickeln,
ohne das kunsthandwerkliche Herz des Berufs zu verändern, was ja oft das
Problem des neoklassischen Orgelbaus war. Die Verbindung von
digitalem Instrumentenbau und
traditionellem Orgelbau würde erlauben, eine Orgel und ihr
Spiegelbild zu schaffen und dadurch die
Mikro-Tonalität auf extrem feine und kontrollierte Weise zu
erforschen. Es ist auch denkbar, dass die
Arbeit an der Klangfarbe dort weitere spannende Entwicklungsmöglichkeiten
fände.
Eine kritische Grösse erreichen und sich europaweit
vereinigen
Seit etwa 15 Jahren entstehen allerorten verschiedene
europäische Kultur-Netzwerke. Dazu gehört zum Beispiel die Vereinigung ECHO
(European Cities bf Historic Organs), die Alkmaar, Brüssel, Freiberg
(Deutschland), Fribourg (Schweiz), Göteborg, Innsbruck, Lissabon, Umag
(Kroatien), Saragossa, Treviso und Toulouse verbindet.
Connecting Arts ist ein weiteres, kürzlich gegründetes
Netzwerk, ein mobiles Festival, das in verschiedenen europäischen Städten
(Utrecht, Kopenhagen, Malmö, Toulouse) zirkulieren wird. Seine Idee ist das
Orgel-Repertoire zu erneuern, einen zeitgenössischen Blick auf das Instrument
anzubieten, die Schaffung innovativer Aufführungen zu stimulieren. Um der Orgel
eine neue Dynamik zu verleihen, verbindet sie sich, mit Tanz, Theater,
visueller Kunst, Film oder Literatur. Jeder Partner von Connecting Arts
verpflichtet sich zur Produktion origineller Neuschöpfungen, welche die Orgel
in Szene setzen. Diese Produktionen werden anschliessend in andere europäische
Städte verbreitet.
In vielen Ländern gibt es Berufs-Verbände oder Gruppierungen
von Orgelfreunden. In Frankreich entsteht gerade im Moment ein neuer Verband, «
Orgue-en-France ». Freuen wir uns darüber! Aber Wäre es nicht an der Zeit die
Gründung einer solchen Vereinigung auf europäischer Ebene vorzubereiten?
Stellen wir uns kurz die Kraft eines europäischen Verbandes vor, der, jenseits
jeglichen gewerkschaftlichen Charakters, als Ziel hätte, die Vielfalt unseres
organistischen Kulturguts zu stützen, der Sache Orgel in allen Ländern eine
Stimme zu verleihen, bei politischen Instanzen, Kirchen, Medien
Trotz einer Verbreitung über den Grossteil aller
europäischen Länder hinweg erreicht die Welt der
Orgel niemals jene « kritische Grösse »‚ die es erlauben
würde, die Aufmerksamkeit der
Massenmedien auf sich zu ziehen. Es ist daher unsere
Aufgabe, kreativ zu sein und unsere Kräfte zu
vereinigen, um Veranstaltungen von heute noch nicht
bekannter Grösse und Art auszudenken.
Die Globalisierung ist ein weiterer Grund, um eine
europäische Plattform zu schaffen: es ist wichtig, dass die europäische Orgel
in ihrer ganzen Vielfalt fähig ist auf globaler Ebene zu existieren und mit
gleichartigen Institutionen anderer Kontinente in einen Dialog zu treten.
Europa muss zu seinem kulturellen Erbe stehen und es zur Geltung bringen im
Kontext einer Globalisierung, die sich mit der Geschwindigkeit eines TGV
vorwärtsbewegt!
Ein europäischer Orgel-Verband könnte von diesem Moment an
ein wertvolles « Interface » sein zwischen lokalen, regionalen, nationalen,
europäischen und weltweiten Strukturen, ohne deswegen lokalen und nationalen
Verbänden ihre Relevanz und Nützlichkeit streitig zu machen.
Die Unterstützung durch neue Technologien
Mit einer gewissen Regelmässigkeit kommt es zu
Grossereignissen von europaweiter Ausstrahlung, zum Beispiel die Restaurierung
eines ausserordentlichen Instruments oder die Einweihung einer modernen und
bemerkenswerten Orgel. 2013 wird beispielsweise die Rekonstruktion der Orgel in
der Hamburger Katharinenkirche durch die Firma Flentrop abgeschlossen sein:
betrachtet man das Rückpositiv, das seit zwei Jahren fertiggebaut ist dürfte
das Ergebnis spektakulär sein: Es handelt sich um eine Orgel, die das
instrument von Scheidemann und Reinken war, bevor dann Bach die Orgel in
Anwesenheit desselbigen Reinken 1720 ebenfalls spielte. Könnte man sich nicht
eine Übertragung der Einweihungskonzerte in Dutzende von Kirchen und
öffentlichen Gebäuden vorstellen, zu Orgel-Verbänden in allen europäischen
Ländern?
Oder stellen wir uns ein Konzert in der Chapelle Royale in
Versailles vor, wo die Orgel mit den Leçons des Ténèbres von Couperin oder
Charpentier in Dialog träte. Oder eine Messe oder eine Vesper im prachtvollen
Rahmen einer grossen Kirche in Venedig oder Mantua. Ein musikalischer
Wettstreit zwischen Froberger und Weckmann, Scarlatti und Händel, Bach und
Marchand... Unsere modernen Teçhnologien erlauben eine Verbreitung und
Übertragung solcher Ereignisse unter hervorragenden Bedingungen und mit einem
durchaus vernünftigen Kostenaufwand.
In einem andern Bereich, nämlich der Oper, geboren und
entwickelt in Europa, stellen wir fest, dass es zu weltweiten Aufführungen
kommt, und zwar nicht etwa aus europäischen Opernhäusern, sondern durch die
Metropolitan Opera in New York. Peter Gelb, der momentan tätige Intendant hatte
die Vision, ein Vertriebsnetz aufzubauen, das Zehntausenden von Zuschauern
erlaubt, live in etwa 650 Kinosälen rund um die Weit den Aufführungen der MET
beizuwohnen.
Könnte sich die Orgelszene in Europa allenfalls von einer
solchen Initiative inspirieren lassen? Ein solches Projekt bedingte eine
gemeinsame Vision, aber eine Vielzahl von Orten, Partnerschaften und
Initiativen zur Realisierung. Wäre es nicht Aufgabe eines europäischen
Orgel-Verbandes, der Union Européenne de Radio-Télë vision vorzuschlagen, ein
jährlich stattfindendes Grossereignis zu organisieren und durchzuführen, in
enger Zusammenarbeit mit den existierenden Interessensverbänden rund um die
Orgel?
Warum ergreifen wir nicht die Initiative eines «
Europäischen Orgeltags »‚ ähnlich der Europäischen Opern-Tage, die es schon
gibt? Seit einigen Jahren finden diese im Mai statt und vereinigen über hundert
Opernhäuser, welche mit Tagen der offenen Tür und zahllosen anderen Aktivitäten
einen stets wachsenden Erfolg verzeichnen.
Auch die fantastische Entwicklung neuer Sozial-Netzwerke im
Internet lädt geradezu ein, weitere
Initiativen zu ergreifen, die bedeutend mehr Kreativität
verlangen als den Einsatz grosser finanzieller
Mittel.
Ich freue mich über die Dynamik, die in der Zürcher
Resolution der Veranstalter dieses Kongresses spürbar ist. Aber geben wir uns
nicht zufrieden damit Warnrufe auszustossen und Forderungen zu erheben: wir
müssen auch lernen, uns gegenseitig anzuregen, kreativ zu sein und zu bleiben
sowie aus unseren Erfolgen, aber auch aus unseren Niederlagen zu lernen.
Schlusswort
Vor einigen Tagen las ich im « Time Magazine » einen Artikel
über einen peruanischen Künstler nicht etwa ein Musiker oder ein bildender
Künstler, sondern ein Spitzenkoch! Zweifellos ist die peruanische Gastronomie
nicht unsere Spezialität da wir als Organisten ja eher der Wiederentdeckung
historischer Barock-Instrumente in jenem lateinamerikanischen Land
Aufmerksamkeit schenken...
Aber warum widmete «Time» diesem Meisterkoch einen Artikel,
und was sagte er aus:
«Gaston Acurio, Peru‘s top chef, has opened acclaimed
restaurants in food capitals from Madrid to San Francisco. He is also training
the next generation of elite cooks in the shanty town of Pachacutec, 50 km
outside Uma. He is hoping all this good food and enthusiasm can lead to
something much bigger. ‚We are developing a vanguard project that will train an
army of chefs who will revolutionizethis country‘, he says. I see Peruvian
cuisine as a way of transforming lives to help build a more just, prosperous
and democratic society‘.» (Time, August 22, 2011)
Wenn man sich vor Augen hält, dass die Spitzen-Gastronomie
solche Ambitionen hat, warum sollte es dann in der klassischen Musik, in der
Welt der Orgel nicht möglich sein?
In einem anderen Land Lateinamerikas, Venezuela, gibt es
Zehntausende Jugendliche, die im Rahmen des Programms « El Sistema» mit dem
Symphonieorchester vertraut gemacht worden sind. Diese jungen Menschen, oft in
favekas geboren und aufgewachsen, bilden heute einige der besten Orchester der
Welt, darunter das Orchester Simon Bolivar, das von Gustavo Dudamel geleitet
wird.
Paradoxerweise hat die Orgel den grossen Vorteil, noch nicht
von der gigantischen Welle der Kommerzialisierung und Vermarktung erfasst
worden zu sein, die unser Musikleben, ja unser Leben überhaupt bis in die
höchsten Sphären betrifft. Vielleicht ist das unsere Chance: wie erreicht man
eine kritische Schwelle, die der Orgel jenen Platz im Musikleben gibt, der ihr
zugesteht, einerseits unter Hervorhebung der ausserordentlichen Vielfalt
unseres instrumentalen und musikalischen Erbes, aber anderseits, ohne den
Sirenen-Gesängen der Vermarktung nachzugeben.
Zum Schluss möchte ich den Organisatoren dieses europäischen
Symposiums herzlich danken: durch die Initiative, uns alle hier zu versammeln,
laden sie dazu ein, das Bewusstsein für ein Erbe zu schärfen, das uns allen in
seiner ganzen Vielfalt anvertraut ist. Sie verpflichten uns, aktiv zu werden,
um es am Leben zu erhalten. Sie ermutigen uns, es als ein soziales und
demokratisches Gut zu betrachten, das auf dem Spiel steht. Es ist an uns,
darauf zu antworten, überall, wo wir sind und wirken. Von der Vielfalt unserer
Antworten, unserer Initiativen, unserer Fähigkeit, uns zusammenzutun und uns zu
grossen gemeinsamen Projekten zu finden, hängt die Zukunft der Orgel in Europa
ab!
lkonographie:
Bidl von Kapitän Nemo an der Orgel
Eine sehr hoch oben placierte Orgel (Metz, Strasbourg?)
Eine Partitur von Frescobaldi oder einem Zeitgenossen
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Orgel in einer lutheranischen Kirche (Bettenhausen :
Altar, Kanzel und Orgel übereinander) |
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Ein prachvtvolles katholisches Orgelgehäuse
(Gegenreformation) : Salamanca? |
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Compenius-Orgel in Frederiksborg |
Ein charakteristisches Instrument einer Grossstadt (Lübeck ?
Amsterdam ? ...)
- |
Ein kleines « Land-Instrument» (Wallonie?) |
- |
Eine oder zwei zeitgenössische Partituren (Volumina,
Tuyaux sonores (lsang Yun) und Fanfare |
II |
..2) |
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Eine Aufnahme eines Performance ((Tanz und Orgel» |
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Plakat oder Foto von Toulouse-les-Orgues |
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Ein Bild von Kindern oder Jugendlichen rund um einen
Organisten |
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Orgelgehäuse Katharinenkirche Hamburg |
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Europakarte mit den Städten von ECHO |
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Bild von Gustavo Dudamel und dem Orchester Simon Bolivar |
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